Kennst Du den Glotz?

„Der Glotz“ ist das Abdriften aus der Gegenwart durch Starren auf ein nahes oder auch fernes Objekt, wenn der Geist ganz leer wird, die Gedanken zur Ruhe kommen und Stille einkehrt. Mitten im Alltag, spontan und ohne Anstrengung, die Sinne stellen auf Sparflamme und es gibt keinen Grund irgendetwas an diesem wertvollen Moment zu ändern.

Ich kenne „den Glotz“ schon ziemlich lange, seit meiner Kindheit und hab ihn dann irgendwann vergessen, weil ich den Eindruck hatte „den Glotz“ zu haben sei etwas Schlimmes. Von meinen Eltern habe ich dann häufig den Satz gehört: „Jetzt hat er wieder den Glotz.“ Und glaubte einen genervten Unterton gehört zu haben. Ich habe „den Glotz“ nie als Problem empfunden, im Gegenteil er war mir eher wie ein guter Freund, der einen spontan besucht, wieder geht und wiederkommt und wieder geht und es ist jedes Mal eine Freude.

Naja, wenn man den Eindruck hat, dass es nicht gerne gesehen ist, lässt man es halt, oder versteckt es, so habe ich es dann auch gemacht, ich wollte ja gefallen, geliebt werden. Man tut in seinem Leben viele Dinge, um geliebt zu werden. Es ist eine irrige Vorstellung zu glauben, dass das Gefühl des Getrenntseins vergeht, wenn man Bestätigung von außen bekommt. Die Bestätigung von außen ist immer nur von kurzer Dauer, egal woher sie stammt. Alles von außen kommt und geht, ist dem ewigen Wandel unterworfen. Entstehen und vergehen, blühen und verwelken, einatmen und ausatmen…

Das was beständig ist, ist im Inneren bereits vorhanden, schon immer da und wird auch immer da sein. Nur eben verdeckt, vergessen, vom aufgebauten Ego entwickelten Selbst-Bild vergraben. So läuft man dann durchs Leben und hat immer das Gefühl das irgendetwas fehlt.

Dieses Fehlen ist die innere Gewissheit, dass es nicht sein kann, dass es zwischen Dir und Deinem Gegenüber, allen Wesen, der Natur, der Erde eine tatsächliche Trennung gibt. Dann ver-suchst Du diese Lücke mit Dingen im Außen zu stopfen: mein Haus, mein Auto, meine Kinder, meine Frau, …

Alles meins … meint man. Ich bemühe hier mal Osho:

Mit leerer Hand kommst du, mit leerer Hand gehst du. Und zwischen Nichts und Nichts bist du verrückt genug zu glauben, etwas zu besitzen.

Alles über die Sinne Erfahrbare ist vergänglich und nicht von Dauer und „der Glotz“ hilft Euch dabei dies zu erkennen, deshalb mein Appell: lasst „den Glotz“ sein, egal ob bei Euch oder bei Euren Kindern, Bekannten, Verwandten, Freunden. Er ist etwas sehr Wertvolles!

 

P.S.:

Ich glaube, dass „der Glotz“ Pate für das Omnom gestanden hat, so kann man sich ihn gut vorstellen, dann wirkt er auch schon gar nicht mehr schlimm 😉 und außerdem enthält der Name gleich zweimal den Ur-Laut OM!

Was ist Harmonie – ist sie erreichbar?

Wikipedia liefert zum Thema Harmonie einige Erklärungen:

  • Vereinigung von Entgegengesetztem zu einem Ganzen
  • Übereinstimmung, Einklang
  • ein Gleichklang der Gedanken und Gefühle

Nicht umsonst bedeutet Yoga auch Harmonie, aber kann durch Yoga-Praxis diese innere Harmonie, der innere Frieden erreicht werden?

Da gibt es häufig ein Missverständnis, denn diese Harmonie ist bereits vorhanden, nur der innere Frieden ist nicht spürbar, weil er überlagert ist. Überlagert von einem sich verselbstständigten Verstand der die Aufmerksamkeit fesselt. Gefesselt und geknebelt ist vom Duft der Freiheit wenig wahrnehmbar, weil der Verstand dir einflüstert, was noch alles zu tun ist, damit …

Hier kann vieles eingesetzt werden, angefangen von den täglichen „Pflichten“ bis hin zum Yoga praktizieren. Sprich: Es gibt viel zu tun!

Aber ist das was offensichtlich zu tun ist, tatsächlich das was zu tun ist, um Harmonie zu erfahren?

Um diese Einheit, den Gleichklang zu entdecken ist es wichtig deine Intuition zu schulen, zu erforschen was in dir schlummert und darauf wartet erweckt zu werden, denn das ist das was dich zur Harmonie führt.

Was auch hilfreich ist, ist die Situationen, die dir immer wieder in ähnlicher Form „widerfahren“ zu betrachten und dich zu fragen: „Was will mir das Leben durch diese Geschichte mitteilen?“. Oft sind das Dinge, die eine starke emotionale Reaktion in dir hervorrufen: Angst, Wut, Panik, Herz schlägt bis zum Hals, Enge-Gefühl im Hals, Atemnot, … Du kannst dem nachgehen und erforschen was der Auslöser dafür war … Du kannst es aber auch lassen und genau den Moment – so wie er ist – annehmen und das Gefühl zulassen und durchleben, ohne jemand anderen dafür verantwortlich zu machen. Das Gefühl kommt aus dir heraus – aus deinem Innersten und will raus, unabhängig von der Vorgeschichte und unabhängig von dem vermeintlichen Auslöser! Es ist sinnlos den Überbringer der offenbar schlechten Nachricht zu töten. Er oder sie ist nur an deinem persönlichen Wohlergehen interessiert, das sein wird, wenn du es zulässt. Lass den Stempel „Gut“ oder „Böse“ weg und lass es zu da zu sein.

Yoga kann dir helfen, dein inneres Selbst wieder wahrzunehmen und auch als wahr anzuerkennen. Dich anzunehmen und durch dich das Ganze, das ganze in seiner Vollkommenheit zu sehen und damit in Harmonie zu sein und durch den Frieden in dir kommt der Frieden im Außen.

Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass das du das verschollen geglaubte wieder entdeckst und wünsche dir viel Spaß beim Ent-Decken (entfernen der Decken, die das Licht verhüllen, das immer in dir strahlt).

Ist vor einem Anfang bereits etwas vorhanden?

[…] Die Handlung der Tragödien könnte sich gar  nicht entfalten, wenn nicht vor dem Anfang schon einiges geschehen wäre: Eteokles und Polyneikes sind bereits tot, und Kreon hat sein Bestattungsverbot bereits ausgesprochen; Ödipus hat seinen Vater bereits getötet. Und auch dies ist nicht der Anfang: Das Orakel hatte den Mord vorausgesagt, denn auf Ödipus Familie, die aus der Erde gewachsen ist, liegt schon seit jeher ein Fluch. Aristoteles’ zentrale These, dass der Mythos am entscheidenden Punkt zur Wiedererkennung (anagnorisis) führe, die idealerweise mit der Umkehr (peripeteia) zusammenfalle, verweist selbst darauf, dass dem Anfang etwas vorausgehen muss, was plötzlich wiedererkannt wird: ein verdrängtes Wissen, das plötzlich offenbar wird. Auch fangen die Tragödien im klassischen Zeitalter (anders als zu Aristoteles’ Zeit) nicht mit dem Anfang des Stücks an; […]

 

Kommentar:

Allem geht etwas voraus und allem folgt etwas, es gibt keinen klar umrissenen Beginn von etwas. Es gibt keine Möglichkeit einen Anfang oder entsprechend auch ein Ende festzulegen.

Wo ist der Anfang einer Welle? Die vorausgegangene Welle, Der Wind, der Mond, die Rotation des Mondes um sich selbst, die Bewegung des Mondes um die Erde, die Bewegung der Erde um die Sonne, …?

Alles ist in Bewegung und initiiert von sich heraus Veränderungen die andere Veränderungen anstoßen. Da es nichts statisches / festes gibt an dem man sich orientieren / festhalten könnte, weil es auch in Bewegung ist, ist es verschwendete Energie dies versuchen zu wollen.

Der einzige Bezugspunkt der zu existieren scheint, ist der gegenwärtige Augenblick, der Moment. Alles was zu tun ist, erscheint im Moment, im Jetzt.

Jetzt ist Vergangenheit und Zukunft zugleich. Der Beginn des einen ist das Ende des anderen und das Ende des einen ist der Beginn des anderen.

Der Sinn der Veränderung ist die Veränderung und die Veränderung ist der Sinn.

Am Ende des Wissens gibt es keine Antworten mehr, weil es keine Fragen gibt, weil alles bereits da ist.

 

Das Zitat stammt aus dem Buch „Dramaturgien des Anfangens“ von Adam Czirak / Gerko Egert (Hrsg.) und ist im Neofelis Verlag erschienen und kann hier bestellt werden.

Der zitierte Text stammt von Jörn Etzold

Gestaltungsspielraum im Leben – freier Wille

Es ist hilfreich vorher den Blog-Beitrag vom 18.11. zu lesen

Ein paar Gedanken zum Thema Gestaltungsspielraum im Leben – was ist vorgegeben, was ist beeinflussbar?

Der Sinn des Lebens ist: zu erkennen was oder wer Du bist, darauf ist alles ausgerichtet. Man kann es sich vorstellen wie die Leinwand eines Bildes. Die vorgegebene Größe der Leinwand, ist das Spielfeld auf dem Du Dich bewegen kannst. Auf diesem Spielfeld hast Du alle Möglichkeiten dich auszudrücken, es ist frei gestaltbar, aber nur innerhalb der Möglichkeiten (auf der Leinwand). Immer wenn Du versuchst neben die Leinwand zu malen, wird es nicht funktionieren, weil dort kein Untergrund vorhanden ist, an dem die Farbe haften bleiben kann. Du kommst wieder zurück zur Leinwand und gestaltest da den Raum, der Dir zur Verfügung steht.

Wenn Du mit einem Bild fertig bist, bekommst Du die nächste Leinwand, diesmal vielleicht etwas größer oder kleiner, Du hast auf jeden Fall nun andere Möglichkeiten, weil sich die Voraussetzungen geändert haben (z.B. größere Leinwand, andere Farben, …).

Bei jedem neuen Bild startest Du wieder mit einer neuen Leinwand und mehr Erfahrungen als beim letzten Bild. Du lässt manche Dinge sein und tust dafür andere. Du kannst jetzt auch andere Dinge, die Du beim letzten Bild vielleicht noch nicht konntest. Dir gehen viele Dinge leichter von der Hand.

Du hast den Eindruck, Dein Gestaltungsspielraum hat sich vergrößert, weil Dein Verstand nicht mehr mit dem Tun beschäftigt ist. Dadurch entsteht mehr Freiheit, um den Gestaltungsspielraum mit Leben zu füllen, der Kreativität mehr Raum zu geben.

Du hast den Eindruck, dass Deine Einflussmöglichkeiten größer geworden sind – in Wirklichkeit waren diese immer schon da, nur der Verstand war mit anderen Dingen beschäftigt.

Was es alles für Gestaltungsmöglichkeiten gibt, erschließt sich dann von Bild zu Bild und übersteigt meist den Horizont, den man noch beim letzten Bild hatte.

Bist Du Gestalter oder Schöpfer?

Die Person hat einen Gestaltungsspielraum innerhalb eines vorgegebenen Weges – das ist das was als freier Wille bezeichnet wird.

Der Weg ist vom Einheitsbewusstsein vorgegeben.

Man kann sich das wie einen Fluss vorstellen. In der Mitte fließt er am schnellsten, ohne Widerstände, umso weiter man sich von der Mitte entfernt, desto eher verzettelt man sich. Man hält sich an Nebenschauplätzen auf, spaltet sich vom Fluss des Lebens ab. Es geht langsam voran, manchmal auch einen Schritt zurück (die kleinen Strudel am Rande des Flusses). Weiter nach außen, außerhalb des Flussbettes, kann sich die Person nicht bewegen (keinen neuen Flusslauf schöpfen/erschaffen).

Wenn man als Suchender sich vom Rand Richtung Mitte bewegt, ist man oft ängstlich/verunsichert , weil die Fülle an Erfahrungen und Eindrücken schnell zunimmt. Dann ist man versucht lieber wieder etwas weiter nach außen zu schwimmen, man unternimmt Anstrengungen, um sich aus der Mitte zu entfernen, um an das Ufer zu kommen, dort wo es ruhig ist. Das führt u.U. zu Überanstrengung (Burn-Out), weil man sich gegen den Fluss des Lebens wehrt. Dass es am Ufer ruhig ist, ist eine Illusion. Am Rand sind Gefahren versteckt, die sich nur im ruhigen Gewässern halten können (Krokodile, …). Das Leben ist kreativ darin Ereignisse zu erschaffen, die dich mehr oder wenig liebevoll wieder zurück zur Mitte, deinem Weg zu bringen.

Die ersehnte Ruhe findet sich nicht im Außen , wenn die Bewusstheit für den Lauf der Lebens da ist, kehrt innerer Frieden ein und jegliches vermeintliche Drama verliert den Schrecken und man fließt unaufgeregt in der Mitte des Flusses.

 

Morgen mehr zum Thema „Gestaltungsspielraum“

Ist der Anfang absehbar?

[…] Anfänge gewinnen ihre Bedeutung nicht von ihren Ursprüngen und Ergebnissen oder von ihrer Originalität und Abschließbarkeit her. Sie sind in ihren Folgen nicht vollkommen absehbar und beziehen ihre Relevanz vielmehr daraus, dass sie Erfahrungs- oder Sinnhorizonte eröffnen, die stets das, was auf der Hand zu liegen scheint, auf- oder unterbrechen. Entsprechend sind Anfänge in diesem politischen Sinne imstande, Versuche des Kalküls und der Planung zu unterlaufen und ihr schöpferisches Potenzial selbst dann zu bezeugen, wenn etablierte Referenzrelationen im Schwinden begriffen sind. […]

 

Kommentar:

Ein Anfang ist immer eine Bewegung, deren Ziel nicht vorhersehbar ist, ein Schritt ins Ungewisse, neues Terrain wird betreten, vermeintliches Sicheres aufgegeben. Bewegung geht Entwicklung voraus, Bewegung ist der Grundstein dessen was sich auf natürliche Weise entfalten möchte.

Doch was ist der Stein des Anstoßes? Was initiiert den Anfang?

Anfang und Ende sind nicht an irgendetwas fest zu machen, es gibt keines von beiden, den beides setzt einen statischen Punkt voraus, den es nicht gibt. Es gibt nur Bewegung, so verursacht sämtliches festhalten wollen an etwas Leid. Der Fluss des Lebens kümmert sich nicht um den Wassertropfen, der lieber hier an dieser Stelle – die gerade so schön ist – bleiben möchte.

Bewegung mag manchmal unbequem sein, eröffnet aber neue Horizonte, denn Bewegung ist Natürlichkeit.

 

Das Zitat stammt aus dem Buch „Dramaturgien des Anfangens“ von Adam Czirak / Gerko Egert (Hrsg.) und ist im Neofelis Verlag erschienen und kann hier bestellt werden.

Der zitierte Text stammt von Adam Czirak / Gerko Egert

Anlocken von Ereignissen

[…] Da immer erst retrospektiv gewusst oder vielmehr erahnt werden kann, dass ‚da und da‘, an diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt etwas angefangen hat, macht es dann überhaupt Sinn, das Anfangen künstlerisch gestalten zu wollen? […] Ist es nicht eher so, dass sich ein Anfang als Provokation der Wirklichkeit, als Ereignis, als Widerfahrnis einstellt? Was mich trifft, provoziert und transformiert, tut das in der Regel ganz unabhängig von einer Instanz der Intentionalität. Im Extremfall weiß der agent provocateur – etwa in der Liebe, aber auch in der Kunst – nicht, dass seine schiere Existenz mein Leben grade umkrempelt. Vielleicht lässt sich die Herstellung eines Kunstwerks weniger als das planvolle Herstellen einer Provokation begreifen denn als eine Praxis des Anlockens eines Ereignisses. […]

 

Kommentar:

Blumen locken Bienen an, Bienen befruchten wiederum andere Blumen, schaffen dadurch neues Leben, produzieren Honig für ihre Nachkommenschaft, erhalten Leben, … ohne Bewusstsein für ihr tun, sie sind einfach, ohne Plan, ohne Wollen ohne bewusstes Anfangen, weil kein Gedanke an Vergangenheit oder Zukunft von der Präsenz des Moments ablenkt.

Blumen locken auch Menschen an, die fasziniert von der Schönheit und ihrem lieblichen Duft die Blume pflücken, um sie später (Zukunft) ihrer Geliebten zu überreichen, weil sie denken, dass es gut wäre sich für den gestrigen Streit (Vergangenheit) zu entschuldigen.

Der Verstand ist ein Segen, wenn er nur eingesetzt wird, wenn er tatsächlich gebraucht wird. Wenn er sich ver-Selbst-ständigt, treibt er gar seltsame Blüten: Selbst-Verachtung (Schuldzuweisung), Bewertung, …

Der selbe Moment ohne Gedanken an Vergangenheit und Zukunft genießt den Duft hingebungsvoller Präsenz an den Augenblick in voller Dankbarkeit an die Schöpfung und strahlt ebendies aus. Ohne Veränderung fließt die Schönheit des Ganzen durch den Körper und leuchtet durch ihn hindurch.

Ein Anfang ist immer und überall vorhanden, ihm wird nur keine Aufmerksamkeit zu Teil, weil der Verstand davon ablenkt…

Frei nach Herman Hesses „Stufen“ „… und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben…“ gilt es den Zauber wirken zu lassen 😊

 

 

Das Zitat stammt aus dem Buch „Dramaturgien des Anfangens“ von Adam Czirak / Gerko Egert (Hrsg.) und ist im Neofelis Verlag erschienen und kann hier bestellt werden.

Der zitierte Text stammt von Karin Harrasser

 

Der Mensch das Kunstwerk

[..] In der Bildenden Kunst, so die Überlegung, stellt die weiße, leere Fläche über die Jahrhunderte hinweg einen Topos dar, der den – teilweise auch Angst besetzten – Anfangsmoment künstlerischer Produktion immer wieder neu inszeniert und installiert. Wie und auf  welche Weise wird der Anfang in der Kunst verhandelt, in dem jegliche künstlerische Spur noch abwesend ist? Und wie sieht solch ein Anfangen aus, das auf der leeren, aber nichtsdestotrotz bedeutungsschwangeren, weißen Fläche generiert werden muss? Wie also wird die paradoxe Offenheit dieser weißen Fläche annektiert und in das System der Repräsentation überführt?

Der Anfangsmoment künstlerischer Produktion wurde in der Bildenden Kunst immer wieder zum Thema eines Werkes gemacht; insbesondere der unbearbeitete Mal- oder Zeichenuntergrund, sei es in Form einer leeren Leinwand oder eines weißen Blattes, avancierte über die Jahrhunderte und Genres hinweg zum Bildmotiv oder objekthaften Gegenstand mit eigenem Ausstellungswert. Ob Pablo Picasso 1956 auf  einem seiner Gemälde eine weiße Leinwand als leere Fläche im Atelierraum darstellt; Raffael im Porträt von Marcantonio Raimondi im Jahr 1520 gedankenverloren vor einer leeren Tafel porträtiert wird; oder Ceal Floyer 2010 einen Stapel leerer weißer Blätter als minimalistische Skulptur in den Ausstellungsraum überführt:

Diese Kunstwerke inszenieren die weiße, unbearbeitete Fläche jeweils als Leerstelle, die dem eigentlichen Beginn künstlerischer Produktion vorausgeht, während, paradoxerweise, vor unseren Augen jedoch eine fertig bemalte Leinwand, bedruckte Grafik oder geformte Skulptur steht. Insofern indizieren diese Objekte im Moment der Rezeption einen Endpunkt, da wir sie nur in ihrer fertigen Form und als eben diese abgeschlossenen Objekte wahr nehmen können  – und verweisen damit auf die ihnen je eigenen Grenzen. Diese symptomatische Ineinsblendung von Anfang und Ende der künstlerischen Produktion, die sich in dem Bild von der leeren Leinwand oder dem weißen Blatt in besonderem Maße konkretisiert, wird von einer weiteren Kontradiktion eingeholt, die sich bereits bei Melvilles Exkurs andeutet: Das Weiß markiert eine Leere, ein Nichts, einen Anfangspunkt, dessen besondere Potentialität sich recht eigentlich erst über seine semantische Offenheit, seine Vieldimensionalität herstellt. […]

 

Kommentar

Die weiße Fläche ist der Mensch, wie er in einer Körper-Geist-Verbindung in das Leben startet / geboren wird. Das weiße Blatt wird vom Leben beschrieben. Durch das Beschreiben ist an einigen Stellen das Weiß des Blattes nicht mehr sichtbar. Umso mehr Weiß – durch Erfahrungen – überschrieben wird, desto weniger Weiß ist sichtbar und das Bild wird bunter und formt sich, wird mehrfach übermalt, es entsteht und wird immer mehr zu einem Kunst-Werk. Was die ganze Zeit über gleich bleibt ist das Weiß der Leinwand, auch wenn es momentan vielleicht nicht sichtbar ist, es ist da. Es war schon immer da, auch als es noch nicht bemalt wurde.

Die Leere des Weiß ist immer da, man kann sie auch sehen, wenn man dahinter schaut. Ohne die Bewusstheit darüber und den Willen dahinter schauen zu wollen braucht es nichts, es ist alles da.

Dann kann man sich über das Weiß des Bildes freuen, die Farben die darauf zu finden sind und vielleicht kann man sogar sehen, dass all das eine wundervolle Gesamtkomposition ist, einzigartig, eins in ihrer Vielfalt.

Anfangen ist Bewegung

[…] In einem Dialog mit Sacks erklärt Rose:

Sacks : „Und wie denken Sie einfach an nichts?“

Rose : „Es ist schrecklich einfach, wenn man erst einmal weiß, wie. […] Eine Möglichkeit besteht darin, immer wieder und wieder an dieselbe Sache zu denken. Zum Beispiel 2  =  2  =  2  =  2, oder : Ich bin, was ich bin, was ich bin, was ich bin  … Es ist genau dasselbe mit meinem Zustand. Er führt immer wieder zu sich selbst zurück. Egal, was ich mache oder denke, es führt tiefer und tiefer in sich selbst hinein.“

Ohne symbolische Referenz wird die Erfahrung leer. Es ist nicht nur nichts, es fühlt sich auch an wie nichts. Wenn die Selbstaktivierung endet, hört die Zeit auf. In die Leere gefaltet fühlt die erstarrte Rose keine Verbindung zur Vergangenheit. Um die Vergangenheit zu fühlen, müsste diese aktiviert werden; sie müsste neue Gedanken denken. Doch genau das kann sie nicht. Sie kann immer wieder nur die Absolutheit ihrer Trägheit denken und fühlen. Die unermessliche Weite der Glattheit umhüllt sie mit einem noch tieferen Nichts, in dem die Sinnesdaten zwar gegenwärtig sind, aber nicht direkt erfahren werden. Prozess ohne Ereignis. […]

 

Kommentar:

Ist dann der einzige Sinn der Erfahrungen uns in den Bereich zu bringen, der es zulässt, zu erkennen, dass es nichts neues zu erkennen gibt?

Vielleicht kann man sich so die Entstehung des Unendlichkeitssymbols vorstellen: Egal ob ich rechts oder links herum gehe, ich komme immer wieder an den Anfangspunkt (der Punkt in der Mitte) zurück, egal wie sehr ich mich bemühe. Genauso könnte ich einen der anderen unendlich vielen Wege gehen, um doch wieder nur zu mir selbst zurückzukehren.

Macht es dann überhaupt Sinn sich zu bewegen? Wenn ich doch sowieso wieder an den Anfangspunkt zurückkehre?

Wenn ich weiß, dass ich sowieso wieder zurückkomme, kann ich mich auch nicht verlaufen, denn ich komme so oder so ans Ziel, das gleichzeitig der Anfang ist.

Der einzige Sinn der Bewegung, des Handelns, des Beginnens ist es selbst…

 

Das Zitat stammt aus dem Buch „Dramaturgien des Anfangens“ von Adam Czirak / Gerko Egert (Hrsg.) und ist im Neofelis Verlag erschienen und kann hier bestellt werden.

Der zitierte Text stammt von Erin Manning

 

Verantwortung für das Handeln

[…] Diese Lesart läuft darauf  hinaus, dass der Akt des Anfangens in einem „zweiten Stadium der Schöpfung“ zu verorten ist, ja in der Unendlichkeit der geschlossenen Repräsentation, als eine Wiederholung, der nichts vorausgeht.

Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, wie man der Sklaverei der Wiederholung entkommen, wie man schöpfen, generieren, anfangen kann. Es ist kein Wunder, dass Derrida auf  das Problem des Anfangens  – kurz vor seinem Tod  – zurückkommt und dieses wiederum im Rekurs auf Artaud im Hinblick auf Verantwortung thematisiert:

„In gewisser Hinsicht wird die Verantwortung des Schreibens, beziehungsweise dessen, was man im allgemeinen als Schöpfung oder Gestaltung (creation) bezeichnet, immer gefühlt als eine Höhlung, die von einer Leere ausgeht […], so daß letztendlich das, was es zu sagen gäbe“, ja womit man anfangen könnte, „nicht vor dem Akt des Sagens existiert; denn, wenn der Inhalt der zu sagenden Sache vorab existierte, dann  gäbe es […] keine Verantwortung zu übernehmen, kein Risiko […].“

So gesehen stellt sich die Frage, wie das Einmalige, der Beginn des Neuen im Fluss des Iterativen zu bestimmen ist. Und wie kann man wiederum Verantwortung für das Anfangen übernehmen, wenn Anfänge keine souveränen Akte sind und keinem von uns allein gehören können? Diese Fragen hallen in einem einschlägigen Deleuze-Zitat wider und spitzen sich in diesem sogar zu: „Das Problem des Anfangs in der Philosophie wurde mit vollem Recht immer als äußerst heikel angesehen. Denn Anfangen heißt alle Voraussetzungen ausschließen.“

 

Kommentar:

Der Anfang entspringt aus der Leere, er war schon da bevor er gesagt wurde. Durch das Sagen beginnt er zu existieren.

Es stellen sich einige Fragen:

  • Wenn der Anfang für irgendetwas bereits im Feld (dem Selbst) vorhanden ist, ist es dann relevant, wer die Verantwortung dafür übernimmt den Anfang zu manifestieren?
  • Kann irgendeine Handlung, die sich aus dem Feld (dem Selbst) bedient, die aus der Leere entspringt falsch sein?

Solange das Handeln aus der Verbindung mit dem Selbst sich entfaltet, ist das Handeln verantwortungsvoll, da es im Sinne des Ganzen bereits da ist.

Verantwortungsloses Handeln ist das, was entsteht, wenn der Handlungsimpuls aus einer Identifikation mit einem Körper-Geist-Verbindung entspringt.

Das Drama des Lebens kann nur so lange seinen Lauf nehmen, solange die Impulse aus der Ich-Identifikation entstehen.

 

Das Zitat stammt aus dem Buch „Dramaturgien des Anfangens“ von Adam Czirak / Gerko Egert (Hrsg.) und ist im Neofelis Verlag erschienen und kann hier bestellt werden.

Der zitierte Text stammt von Adam Czirak / Gerko Egert